Der schwule Fußballer
© Kathrin Sehland
Schon als er am Morgen die Augen aufschlug spürte er, dass heute der Tag gekommen sein würde. Heute fühlte er sich stark. Heute empfand er Selbstbewusstsein. Heute würde er endlich die Kraft und den Mut aufbringen können, um seinen Kameraden ganz trocken zu sagen: „Ich bin schwul.“
Ohne Wenn und Aber, frei von der Leber weg. Gut, er lebte in einer männerdominierten Welt, Profifußballer. Aber nachdem, was in den letzten Wochen alles passiert war, schien sich viel zu verändern. Es geriet etwas in Bewegung, was keiner je zuvor erwartet hätte. Das Feingefühl für die speziellen Eigenheiten eines jeden Menschen, seinen Befindlichkeiten war gewachsen. Die Welt, auch die Fußballwelt, schickte sich an, Verständnis zu zeigen. Selbst Depressionen konnten inzwischen fast ohne Einbußen eingestanden werden. Die Vereine, Manager, Mannschaftsleitungen, Spieler und selbst die Fans waren so einsichtig, dass so ein bisschen Schwulsein doch auch kein Problem mehr darstellten dürfte.
Er stand vor dem Spiegel und kontrollierte, über das Gesicht streichelnd das Resultat seiner Rasur. Glatt, babyglatt. Mit etwas Spucke fixierte er seine Brauen. Zufrieden lächelte er sich zu. Dann schickte er einen Kuss gen Spiegelbild und zeitgleich küsste dieses scheinbar zurück.
Mit einem flotten Griff schnappte er sich seine Sporttasche und fuhr zum Training. Aus dem Player seines Jaguars ertönte sein Lieblingslied: „Schwule Mädchen“. Im Takt wippte sein Oberkörper vor und zurück und zum Refrain trällerte er lautstark mit.
Er war so gut drauf, wie seit langem nicht mehr. Einen besseren Tag für sein Coming-out hätte er sich nicht vorstellen können.
Dennoch holten ihn immer wieder leise Zweifel ein. Er blinzelte in die Sonne. Schwulsein war nun wirklich nicht schlimm, eigentlich alltäglich, in der heutigen Zeit. Und er erinnerte sich an die Forschungsergebnisse aus der Antarktis. Seit herausgefunden wurde, dass sogar Pinguine gleichgeschlechtliche sexuelle Bindungen eingingen, war es bewiesen und normal, jedenfalls für ihn. Wieso nur hatte er so lange geschwiegen? Gut, Schwulsein galt als Verweichlichung, als Belästigung. Aber bisher hatte er doch bewiesen, dass er nicht nur ein guter, sondern ein ausgezeichneter Spieler war. Und nur das zählte. Er war nicht weich. Gut, das konnte er zwar auch sein, aber nicht auf dem Spielfeld. Da war er ein harter Hund, sich nicht zu schade ist, mal kräftig reinzutreten, natürlich nur wenn es sein musste. Dafür entschuldigte er sich aber auch jedes Mal mit einem leichten Klopfen, auf Schulter, Rücken oder einen sachten Klaps auf den Po. Bei dieser Vorstellung musste er schmunzeln, sah geradewegs diesen neckischen kleinen, dennoch straffen Fußballerhintern vor sich. Vielleicht trat er auch deswegen so gern mal in die Beine, wegen dieser netten Entschuldigungen? Nein, diesen Gedanken schob er schnell beiseite, so wollte er nicht sein.
Schwule Pinguine! Er lachte, schüttelte ungläubig den Kopf und versah ganz kreativ die Musik aus dem Player mit einem neuen Text. Lauthals sang er: „Schwule Pinguine.“
An der Ampel neben ihm hielt ein Auto mit zwei jungen Damen. Winkend sahen sie zu ihm herüber, lachten und machten ihm schöne Augen. Scheinbar hatten sie ihn erkannt. So ziemlich alle in der Stadt kannten die Gesichter der erfolgreichen und umjubelten Fußballmannschaft. Und alle würden heute erfahren, dass er schwul war. Auch die beiden Damen da drüben.
Wieder ereilte ihn die Nachdenklichkeit. Was würde wohl die breite Öffentlichkeit meinen? Die Zeitungen würden darüber berichten, das war klar. Aber wie? Schließlich waren es auch die Medien, die die Begriffe Schwuchtel, Warmer oder Tunte publizierten und sich wie Geier darauf stürzten, so bald mit einer schwulen Story Geld zu verdienen war.
Wie würde es auf dem Fußballfeld selbst, nach seiner Offenbarung sein? Würde er weiterhin bei einem Freistoß ganz unbedarft in der Mauer zwischen seinen Jungs stehen können? Gerade da, wenn die Hände schützend die Männlichkeit abdeckten, diese geradezu einen Blickfang bot und damit Sexualität ins Bewusstsein rief?
Wie würde es sein, wenn sie sich nach einem Treffer ungestüm küssend in den Armen liegen würden? Würde er noch genau so geherzt werden oder würden unsichtbare Schranken nur ein Schulterklopfen erlauben? Und würde er noch einen Platz finden, in der von Spielern und Zuschauern besonders beliebten Fußballraupe? Er überlegte, welche Position er in der Raupe noch einnehmen könnte. An erster Stelle würde er sein Hinterteil den anderen direkt gen Gesicht recken. Das wäre ungünstig. Als Letzter könnte es den Schein erwecken, als schwänzele er den Jungs hinterher. Und mittendrin? Als könnte er den Hals nicht voll genug bekommen.
Würden die Damen auch noch winken, wenn er bereits seine wahre Sexualität zugegeben hätte? Wenn sie wüssten, dass sie bei ihm keine Chance hätten, jedenfalls in sinnlicher Hinsicht. Würden sie auch dann so freundlich zu ihm herüber winken? Leise stiegen Zweifel auf.
Er ließ die Seitenscheibe herab und reichte den beiden zwei Autogrammkarten von Fenster zu Fenster. Wer weiß, ob man sie noch mal als loyale Fans gebrauchen könnte.
Eine größere Freude hätte er ihnen nicht bereiten können. Sie quiekten vor Vergnügen, schauten auf das Bild, sein Bild, mit seiner Unterschrift und bedankten sich unentwegt. Ganz aus dem Häuschen waren die beiden.
Diese tiefe Freude und Sympathie konnte nicht allein deswegen sein, weil er scheinbar ein Heteromann war. Nein, die Zuneigung war seiner selbst Willen, wegen seines Fußballkönnens. Das konnte gar nicht anders sein. Sie mochten ihn als Spieler einer standhaften Elf, an deren Erfolg er doch so großen Anteil hatte.
Irgendwie fiel ihm gerade ein Stein vom Herzen. Glückstrahlend und in seinem Outing- Willen bekräftigt, fuhr er mit quietschenden Reifen davon.
Die Umkleidekabine füllte lautes Stimmengewirr und sie begrüßten ihn mit einem Hallo!, Handschlag oder einem freundlichen Kopfnicken. Er war froh, hier zu sein, hier unter seinen Kameraden. Kameraden, die zu ihm standen, wie es in einer Elf sein muss. Elf Freunde sollt ihr sein. Und das waren sie.
Beim Umziehen betrachtete er schon mal den einen oder anderen. Aber nicht aufreizend oder schmachtend. Nein, ganz normal. Gut, hin und wieder stieg schon mal die Sehnsucht nach einer Liebelei auf. Aber ganz im Ernst, er hätte nie was angefangen. Wie auch, wenn keiner davon wusste, dass er auf Männer stand. Vielleicht gab es ja noch einen unter ihnen, der von seinem heutigen Coming-out profitieren würde. Vielleicht würden sie dann zu zweit sein. Zu zweit, als Schwule in einer Fußballmannschaft. Rein diese Vorstellung erheiterte ihn und ließ ihn bis über beide Wangen grienen.
Er sah in die Runde. Alles aufgeklärte Männer, die mitten im Leben standen, neutral gegenüber Vorurteilen. Er war stolz auf seine Mannschaft.
Lautstark unterbrach der Trainer das Stimmengewirr, bat um Gehör und verkündete die geplanten Trainingseinheiten.
Der Trainer. Ein Mann mit Prinzipien, mit Ausstrahlung, guten Führungseigenschaften, Verständnis und tief reichender Menschlichkeit. Ein Mann, der voll hinter seinen Jungs stand, mit allen Fehlern und Schwächen. Er würde auch hinter ihm stehen bleiben, fest wie eine Eiche.
Mit: „In fünf Minuten auf dem Platz!“, beendete der Trainer seine Anweisungen.
Der Augenblick für das Eingeständnis schien günstig. Jetzt würde er den Jungs offenbaren, dass er anders war, als ein normaler Mann, dass er ein schwuler Fußballspieler war. Einer mit Erfolg und einer von ihnen, einer auf den die Mannschaft auf keinen Fall verzichten konnte. Ein Garant für ein siegreiches Spiel. Ein Meister seiner Klasse, ein Experte auf seiner Spielposition. Ein Fußballer mit Hirn, taktischem Vermögen und weitsichtigem Denken. Er war ein Kicker mit Talent, ein Ballzauberer. Und ein Kamerad, einer mit Loyalität über den Profifußball hinaus. Er war ein Freund, der Freund der ganzen Mannschaft.
Um sich Gehör zu verschaffen, klatschte er kräftig in die Hände und obwohl einige noch redeten hob er mit lauter Stimme an: „Ich wollte euch heute etwas, mir besonders am Herzen liegendes mitteilen. Etwas, was für mich unendlich wichtig ist. Ich habe lange gebraucht, doch heute fühle ich den Tag gekommen. Ich mach’s kurz. Liebe Kameraden, ich bin schw“.
Da brach er seine Rede abrupt ab. In der Umkleidekabine herrschte bestürzte Stille. Stille, wie auf einem Friedhof, oder als würde frisch gefallener Schnee sämtliche Geräusche verschlucken. Eiseskälte breitete sich aus. Er blickte in die Runde der wohlbekannten Gesichter seiner Fußballfreunde. Eins nach dem anderen schaute er sich an. Neugier und entsetztes Erwarten spiegelten sich wider. Er spürte, wie sich seine Knie in weiche Gummigelenke verwandelten, so als stünde er kurz vor einem Elfmeterschuss, spürte, wie sich ein feuchter Film auf seiner Stirn ausbreitete, wie seine Wangen zu fiebern begannen, wie sein Puls raste. Ihm war klar, dass er den Satz zu Ende bringen musste. So offen, ohne Aussage konnte er ihn nicht stehen lassen. Das würde zu viele Fragen offen lassen. Er musste die Sache abschließen.
Stockend und mit zitternder Stimme sprach er weiter: „Kameraden, ich bin Schwedenfan.“
Sekunden der Stille folgten. Schulterzuckend und entschuldigend fügte er hinzu: „Tja, mir gefällt einfach die, wenn auch etwas erfolglose Spielweise der Schweden.“
Das unangenehme Schweigen wurde von einem erleichterten Aufatmen, was sogleich in ein erfreuliches Lachen überging, abgelöst. Im Nu hatte sich die Akustik der Umkleidekabine wieder in das alte Stimmengewirr verwandelt.
„Hey, das ist doch nicht so schlimm. Ich bin Islandfan.“
Dabei legte man ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter.
Ein anderer packte sein Gesicht freudig mit beiden Händen: „Ich dachte schon, du bist schwul!“, gab ihm erleichtert einen dicken Schmatz auf die Wange und wuschelte ihm kurz durchs Haar.
„Nein, nein.“, versuchte er verlegen zu scherzen.
Mit hängenden Schultern hörte er, wie das Klackern der Fußballstollen im langen Gang der Umkleidekabinen sanft verhallte. Allein blieb er zurück. Ganz allein. Er hatte es nicht geschafft, seinen Kumpels, seinen besten Freunden die Wahrheit zu sagen. Zu sehr erschütterten ihn die entsetzten Gesichter derer, die er für aufgeklärt, für tolerant hielt. Er hatte es nicht fertig gebracht. Und jetzt?
Er hielt inne und dachte über sein Leben nach. Bisher war es doch ganz gut gelaufen. Warum nicht einfach so weiter machen? Stand dem etwas entgegen, nur weil er dieses eine Wörtchen nicht auszusprechen vermochte?
Er schnaubte einen kräftigen Luftstoß durch die Nase und pfiff so auf sein Bekenntnis. Im Leben ist es eben wie im Fußball. Ein Spiel gewinnt, das andere verliert man. Und nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Alte Fußballerweisheiten! Und er war Fußballer, durch und durch, auch wenn er schwul war. Warum sollte er sein Innerstes jedem preisgeben? Er hat doch eine Persönlichkeit, und die war nur wegen des Schwulseins nicht schlechter als die von Heteros. Was geht es die anderen an, wenn er nun mal Männer mehr liebte, als die Frauen. Nichts.
Er richtete sich auf, zupfte seine Trainingsshorts zurecht und rannte in maskulinen Schritt hinaus auf den Platz, auf dem Männer sein müssen, wie Männer normalerweise sind.
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