Thomas Gohlke: Berliner Mauerjungs

Fußball – Fußballgeschichte – Ball – Berliner Mauer – Mauerfall – Mauerbau – Grenze – Mauerstücke – Mauergeschichte – Kurzgeschichte – Berlin – Großziethen – Trabi – Wartburg – Auto Union – Spielplatz – Bunker – Mutprobe – Berliner Mauerjungs


Berliner Mauerjungs
© Thomas Gohlke

Weil ich Hummeln im Arsch hatte, sprang ich am Frühstückstisch hin und her. Kasperte, alberte herum, machte Faxen und zog Grimassen, bis endlich alle lachten. Stieß mit meinem Ellenbogen den Becher mit dem heißen Kakao um und die Brühe lief mir über den nackten Oberschenkel. Gleichzeitig knallte es von rechts, denn ich fing mir eine Backpfeife meiner Mutter ein.
Ich schrie. Wusste nicht warum, ob wegen der Schelle oder wegen der Schmerzen auf dem Oberschenkel. Egal, ich schrie! Wie der Blitz sprang ich auf und rannte aus dem Haus über den Hof in unseren Garten.
Langsam ließ der Schmerz nach und meine Tränen trockneten. Ich suchte Trost bei meinem Kater, dem ich alles erzählen konnte. Er war grau-schwarz getigert und ich nannte ihn Dicker, weil er so dick war.
Mich nannte man Moppel, weil ich ebenfalls dick war.
Am Ende des Gartens stand ein roter Zaun und dahinter war ein weites Feld. Ich öffnete das Tor, um auf dem Feld mit meinem Kater zu spielen. Doch der Dicke büchste gleich aus und jagte Millionen fetter Mäuse. Ich ging zurück, holte meinen bunten Gummiball und spielte Fußball. Später kamen auch meine beiden älteren Brüder, um auf dem Feld Fußball zu spielen.
Dort versammelten sich die Kumpels aus der Umgebung. Sie wählten zwei Mannschaften, steckten zwei Tore ab, warfen die Lederülle in die Mitte und knödelten frei drauf los. Mich ließen sie links liegen. Ich war erstens zu dick, zweitens zu langsam und drittens viel zu jung.
So kickte ich den Ball vor mir her, gedankenlos, verträumt, nicht bei der Sache.
Bis mein schöner Ball mitten in den Grenzzaun flog.
Denn, was ich noch nicht erwähnte: an das Feld grenzte ein riesiger Stacheldrahtzaun. Ich rannte in das Stacheldrahtgewirr und versuchte meinen Ball herauszupopeln. Ich sah voller Entsetzen, wie das bunte Rund immer kleiner wurde. Mein Ball verlor Luft und somit auch sein Leben. Ich kroch in die Drahtfestung und riss mir meinen Oberschenkel auf. Ich starrte auf mein rotes, vom Kakao verbranntes Bein und sah, wie aus einem tiefen Riss das Blut quoll.
Ich humpelte übers Feld wie ein angeschossenes Reh. Am Gartentor empfing mich meine Mutter. Und als hätte ich nicht schon genug durchgemacht, zog sie mich an den Ohren durch den Garten bis in die Küche. Dort wurde ich endlich verarztet.
Anschließend gab es Stubenarrest. Nur zum Mittagessen durfte ich in den Garten, um meine beiden Brüder herbeizurufen.
Nach dem Mittag nahm mich meine Mutter zur Seite und erklärte mir zum wiederholten Male, warum dort im Feld so ein großer Zaun stand und dass ich auf keinen Fall in das andere Land gehen dürfe. Denn von dort käme ich nie wieder nach Hause. Verstanden habe ich es nicht.
Am Abend stand ich am Fenster meines Kinderzimmers, blickte übers Feld zum Grenzzaun und schaute noch weit darüber hinaus. Heute weiß ich, dass auf der anderen Seite Großziethen liegt.
Am nächsten Tag spielte ich wieder auf dem Feld, aber mit respektvollem Abstand zur Grenze. Auf unserem Spielplatz-Feld standen drei Autowracks herum. Ich glaube mich zu erinnern, dass es ein Trabi war, ein Wartburg und ein alter Auto Union. Ich saß gern in einem der Autos und lenkte wild herum, zappelte mit den Füßen und prustete mit dem Mund Motorengeräusche heraus. Ich fuhr dann meist in den Urlaub. Blickte mal nach rechts aus dem Autofenster und sah unser Siedlerhaus mit dem großen Garten. Links sah ich den Bunker, der seit dem Weltkrieg hier stand und den niemand abzuholen schien.
Dort spielten meine beiden älteren Brüder mit ihrer Horde Spielkameraden. Obwohl unsere Eltern uns auch ein Spielverbot für diesen Bereich erteilt hatten, erforschten alle gern das Innere des Betonklotzes. Nur ich durfte nicht mitkommen, weil ich der kleine dicke Moppel war.
Eine Mutprobe müsse ich machen, hieß es immer. Und heute war es so weit. Ich raffte mich zusammen, spazierte durch das hohe Gestrüpp, griff mal links nach unten, dann wieder rechts nach unten, um den auf dem wilden Feld herumliegenden Mut in meine Hosentaschen zu packen. Am Eingang des Bunkers hörte ich tief im Inneren die Stimmen der Großen und sah den Schein einer Taschenlampe. Gleich am Anfang führte eine Steintreppe ins dunkle Nichts.
Mein fünf Jahre älterer Bruder Manni kam nach oben. Er fragte, was ich hier wolle. Ich sagte: „Mitspielen, sonst sage ich Mama und Papa, dass ihr wieder im Bunker seid!“
Manni rief die anderen und sagte ihnen, dass ich vorhätte sie zu verpetzen, wenn ich nicht mit in den Bunker dürfe. Unser Nachbar Peter meinte: „Okay, aber du musst die Mutprobe machen!“ Gemeinsam stiegen wir auf einen Block oberhalb des Bunkers und ich musste von dort auf den kleinen Kiesberg nach unten springen. Es war sehr hoch! Doch wenn ich auch ein Großer werden wollte, musste ich springen. Bei der Landung verspürte ich einen stechenden Schmerz im Oberschenkel. Dort hatte sich eine riesige Scherbe reingebohrt.
Man erzählte mir, dass ich mit der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht wurde, weil ich wie ein angestochenes Schwein blutete. In jenem Sommer musste mein linker Oberschenkel sehr viel leiden und heute noch sieht man die Narbe meiner Mutprobe. Dennoch wurde ich im Kreis der Großen aufgenommen. Nicht weil ich gesprungen bin, sondern weil ich nach einer Vernehmung durch meine Eltern niemanden verraten habe.
Bevor der Sommer ging, passierte noch etwas Merkwürdiges an der Grenze. Die Jungs saßen auf einem Block oben auf dem Bunker und ich stand am Gartenzaun. Mit offenem Mund beobachtete ich das Schauspiel.


… die Fortsetzung dieser Geschichte gibt es in dem Buch

Mauerstücke

Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten

Hrsg. Bettina Buske und Patricia Koelle
Vorwort Walter Momper
Geleitwort André Schmitz
Mit Farbfotos der Berliner Mauer
ISBN 978-3-939937-08-1

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